Über Jahrzehnte hielt das Versprechen von Frieden und wachsendem Wohlstand die Europäer zwischen Finnland und Zypern zusammen. Doch seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 ist das europäische Projekt auf Schlingerkurs und steckt heute in seiner größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Neoliberale Wirtschaftskonzepte, korrupte Eliten und global agierende Banken und Konzerne spalten zunehmend den Kontinent; Arbeitsrechte und Sozialstandards werden immer mehr aufgeweicht; Völkerhass, Klassenkämpfe und Nationalismus greifen um sich und treiben immer mehr Menschen in die Hände von Rechtspopulisten. Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA wird zu einer Entspannung der Situation kaum beitragen.
EUROPA - EIN KONTINENT ALS BEUTE stellt wichtige Fragen: Wie konnte es zu dieser breiten wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und moralischen Krise Europas kommen - und wie schaffen wir es aus dieser brandgefährlichen Situation wieder heraus? Wie kann man Menschen für ein faires und solidarisches Europa gewinnen? Wie wollen wir in Zukunft in Europa zusammen leben?
Um den ökonomischen Verflechtungen und politischen Ursachen der Krise auf die Spur zu kommen, haben sich die Filmemacher Christoph Schuch und Reiner Krausz auf eine Reise durch Europa gemacht: in die Krisenländer Spanien und Portugal, ins Europäische Parlament nach Brüssel, in die Bankenmetropole Frankfurt und in die neutrale Schweiz. Sie lassen den linken Europa-Politiker Fabio De Masi zu Wort kommen, den Wirtschaftsfachmann Dirk Müller aka "Mister Dax" und den Historiker Daniele Ganser, aber auch die Politik-Akivist_innen Paula Gil, Teresa Galindo und Miguel Angel Ferris, die von ungleichen Chancen, dem Kampf um lebenswerte Alternativen und kleinen Hoffnungen erzählen. Diese vielfältigen Experten-Perspektiven verweben Schuch und Krausz gekonnt mit einem traumwandlerisch sirrenden, mitunter aufrüttelnden Soundtrack von Oliver Augst und Marcel Daemgen und ruhigen, poetischen Bildern eines Europas im Ausnahmezustand.
Was passiert da gerade? Europa kommt aktuell nicht zur Ruhe: Abbau von sozialen Standards, erzwungene Privatisierungen, terroristische Anschläge, ein Krieg gegen das eigene Volk in der Türkei, Ausnahmezustand in Frankreich, Einschränkungen der Pressefreiheit in mehreren Ländern, Austritt der Briten aus der EU, Angriffe auf Flüchtlingsheime in der deutschen Provinz, Wiederausrollen von Stacheldraht an den Grenzen - die Liste ließe sich fortsetzen. Und dann wurde vor kurzem auch noch ein Mann zum nächsten Präsidenten der USA gewählt, der die Verachtung von Frauen, Schwulen, Behinderten, ja von ganzen Völkern und Glaubensrichtungen salonfähig gemacht hat. Spätestens jetzt müsste Jedem klar sein, dass das "Wir" des "freien Westen" jeglichen Anspruch auf Gültigkeit verloren hat.
Mich persönlich haben diese Entwicklungen immer fassungsloser gemacht. Besonders einschneidend habe ich die Krise am Beispiel Portugals erlebt. Dieses Land, das ich so liebe und in dem ich Film studiert habe, wurde plötzlich von angloamerikanischen Hedgefonds zu einer Art Ramschland degradiert und zum Ausverkauf freigegeben, wie zuvor schon Griechenland.
Über die Ursachen der europäischen Misere, die sich seit der Finanzkrise 2008 immer mehr verschärft, diskutieren sich Politiker und Experten inmitten vieler Nebelkerzen in Talk-Shows fast täglich die Köpfe heiß. Für das Publikum ist das oft ermüdend und meist wenig erhellend.
Aus diesem Grund wollte ich selbst filmisch nach Antworten suchen. Meine Recherereisen führten mich zunächst nach Portugal und Spanien. Dort filmte ich Aktivist_innen und Journalist_innen, die in Portugal den Brain Drain anprangern und in Spanien die Korruption der regierenden konservativen Volkspartei. Visuelles Herzstück des Films sind die ruhigen Aufnahmen, die hier entstanden sind.
Ergänzt werden diese Gespräche durch drei Interviews, die ich gemeinsam mit Reiner Krausz in Brüssel, Frankfurt am Main und Basel geführt habe. Wir haben uns hier ganz bewusst für Protagonisten entschieden, die aus unterschiedlichen Disziplinen kommend mit verschiedenen Perspektiven auf die Krise blicken: den linken Europa-Abgeordneten Fabio De Masi, der uns die Dinge aus der großen Maschine heraus, aus dem EU-Parlament schildern konnte; den Wirtschaftsexperten Dirk Müller und den Schweizer Historiker und Friedensforscher Dr. Daniele Ganser, der den Außenblick auf das europäische System hat.
Als Filmemacher hoffen wir, unsere Zuschauer zum Nachdenken und Diskutieren anregen zu können. Wie all unseren Protagonisten geht es auch uns darum, ein besseres Europa zu ermöglichen: ein Europa, das soziale Standards und gesellschaftliche Minderheiten respektiert und schützt und dem Ausverkauf der Städte, Staaten und Werte ein solidarisches Projekt entgegensetzt.
Christoph Schuch, Januar 2017
"Wir sind mit Europa groß geworden.
Wir hatten das Erasmus-Programm für
Studenten und all die Möglichkeiten,
um unser Land zu verlassen, um im
Ausland zu studieren oder zu arbeiten.
Das Problem ist, dass wir unter einem
Brain Drain leiden, dem Wegzug vieler
gebildeter, junger Menschen. Und
das ist erzwungen. Es ist nicht unsere
Wahl, das Land zu verlassen. Es ist
die einzige Möglichkeit, um weiterhin
zu arbeiten und ein normales Leben
zu führen. (…) Die jetzige Generation
ist besser ausgebildet als jemals eine
Generation zuvor in Portugal. Diese
Generation ist komplett verloren. Und
sie kann nichts zur Veränderung der
Situation in unserem Land beitragen.
Und die Generation, die wir zur Welt
bringen werden, wird entweder nicht in
Portugal leben oder weniger Zugang zu
Bildung als wir haben. Das bedeutet:
Es gibt für dieses Land keine Zukunft."
Paula Gil
"Den Armen geht´s in Griechenland
und in Deutschland schlecht. Das
Perfide ist, dass die jetzt gegeneinander
aufgehetzt werden, entlang der
Nationallinien. Das ist eine klassische
Technik: Du hast eine andere Fußballnationalmannschaft
als der, also
habt Ihr verschiedene Interessen, und
das bedeutet: Er nimmt Dich aus!
Wenn man das tausendmal erzählt,
dann braucht es keine Fakten mehr,
dann glauben das die Leute. Eine
Lüge, die genügend oft wiederholt
wird, führt dazu, dass Leute aus der
gleichen Klasse das Gefühl haben,
sie sollten sich bekämpfen. Und sie
verstehen nicht, dass das Spiel nicht
über die Nationen läuft, sondern über
die Schichten. Dass die Unterschicht
in Griechenland und in Deutschland
verliert, dass die Mittelschicht in
Griechenland und in Deutschland
verliert und dass die Oberschicht in
Griechenland und in Deutschland
profitiert."
Dr. Daniele Ganser
"Die Politik versteht gar nicht, wie
schnell ihr das Heft entgleitet, wie
schnell die Macht zu den Konzernen
wechselt. Die Konzerne sind
international aufgestellt und können
sich aus allen Ländern die Rosinen
herauspicken: können dort ihre
Steuern zahlen, dort ihren Firmensitz
hinsetzen, dort produzieren, dort
verkaufen - sie suchen es sich raus,
spielen die Staaten gegeneinander
aus. Und die Staaten stehen da und
wundern sich, was passiert, und
lassen sich obendrein noch vorführen
und von den Konzernen die Gesetze
vorschreiben."
Dirk Müller
"Viele Leute fragen sich ja: Warum wird diese gescheitere Europa-Politik weiter gemacht? Wir haben jetzt seit fast sieben Jahren Depression, die Schulden sind gestiegen, statt zu sinken. Sind die Regierungen zu blöd dafür? Ich glaube, sie sind nicht zu blöd, sondern es stecken Interessen dahinter. Man will im Prinzip überall die Löhne drücken, die Renten drücken, um eine billige Sonderwirtschaftszone für die großen Konzerne zu schaffen und deswegen nimmt man in Kauf, dass die Wirtschaft immer weiter abschmiert, dass die Leute keine Gesundheitsversorgung mehr haben, dass Menschen verzweifelt sind, dass sogar die
Selbstmorde in
Ländern wie Griechenland zugenommen
haben - und das überhaupt eine
große Depression in der Bevölkerung
herrscht. Das ist eine fundamentale
Kriegserklärung an die Demokratie,
denn Demokratie heißt ja auch,
dass sich die Interessen der Mehrheit
durchsetzen, und die Mehrheit der Bevölkerung besitzt eben keine
Fabriken. Wenn man permanent Löhne
senkt und unser öffentliches Eigentum
an irgendwelche Heuschrecken
verramscht, dann ist klar, dass man
die Demokratie immer mehr abschafft.
Denn die Demokratie stört."
Fabio De Masi
"In Valencia werden tatsächlich
öffentliche Gelder für Bildung investiert,
doch diese Mittel fließen nur an
bestimmte Initiativen für die Einrichtung
von Privatschulen. In die öffentlichen
Schulen wird hingegen nicht
investiert. In diesen Zeiten hat die
spanische Familie aber schlicht nicht
die finanziellen Mittel, um private Bildung
für ihre Kinder zu finanzieren.
Das ist ein großes Problem, das fast
alle Familien stark betrifft, nicht nur
die der Arbeiterklasse, sondern auch
Familien der Mittelklasse bis oberen
Mittelklasse."
Teresa Galindo
Christoph Schuch, geb. 1965 in Frankfurt am Main, studierte Film und Visuelle Kommunikation an der Gesamthochschule Kassel, war Werkstudent am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und verbrachte ein Gaststudienjahr an der portugiesischen Filmhochschule in Lissabon. Seit 1994 ist er als freier Filmemacher tätig, sowie als Produzent mit Avanti-Film. EUROPA - EIN KONTINENT ALS BEUTE ist sein fünfter Kinodokumentarfilm als Regisseur und Produzent.
Mit dem Dokumentarfilm "Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben" über die Band Ton, Steine, Scherben gelang ihm 2001 ein viel beachteter Kinoerfolg. Zuletzt war er mit dem Film "Butterfly Stories - Von Menschen und Schmetterlingen" auf Tour, für den er den Preis der Jury beim italienischen Gran-Paradiso-Filmfestival erhielt sowie weitere Nominierungen bei diversen internationalen Festivals. Er ist zudem Regisseur von zahlreichen Fernsehdokumentationen und Reportagen für 3sat, arte und ZDF wie z.B. "Das Rätsel von Tunguska" oder die Reihe "Neue Gartenkunst".
1994 | "Der Schatten des Waldes" · Bester Film mit ökologischem Thema, Filmfestival Krakau |
1996 | "Namibia - Rückkehr in ein neues Land" |
2001 | "Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben" · Bester Dokumentarfilm, Internationale Grenzlandfilmtage Selb · Branchentiger FFA |
2006 | "Self-Made Paradise" |
2013 | "Butterfly Stories - Von Menschen und Schmetterlingen" · Preis der Jury, Gran-Paradiso-Filmfestival, Cogne, 2014 |
2016 | "Europa - Ein Kontinent als Beute" |
Reiner Krausz, Christoph Schuch
Reiner Krausz, geb. 1962 in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Kulturanthropologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main und seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeitete er zunächst als Kameramann und Cutter. Seine Stadtfotografien erscheinen in zahlreichen Publikationen. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er auch als Produzent und Dozent tätig. 1998 gründete er zusammen mit Vita Spieß die Sehstern-Filmproduktion und realisiert seitdem dort Dokumentarfilme und Reportagen für verschiedene Fernsehsender.
2005 | "Opernfieber" (Regie: Katharina Rupp) · Hessischer Filmpreis 2005 als bester Dokumentarfilm |
2007 | "Spielverderber" (Regie: Georg Nonnenmacher und Henning Drechsler) · Hessischer Filmpreis 2007 als bester Dokumentarfilm |
2012 | "Die Koffer des Herrn Spalek" (Regie: Gregor Eppinger) |
2016 | "Europa - Ein Kontinent als Beute" |
Europa - Ein Kontinent als Beuteein Film von Christoph Schuch und Reiner Krausz
KINOSTART : 23. FEBRUAR 2017
Buch und Regie : Christoph Schuch Schnitt : Reiner Krausz Kamera : Christoph Schuch, Reiner Krausz & Vita Spieß Ton : Reiner Krausz, Christoph Schuch & Viola Dörffeldt Komposition : Oliver Augst & Marcel Daemgen Musiker : Oliver Augst, Marcel Daemgen & Alexandre Bellenger Tonmischung : Sven Schwegler Colour Grading & Mastering : Reiner Krausz Produzent : Christoph Schuch
Eine Produktion von Avanti-Film mit freundlicher Unterstützung von Hessen Film & Medien und Sehstern Filmproduktion mit Fabio De Masi, Dirk Müller, Daniele Ganser, Paula Gil, Tersa Galindo, Miguel Angel Ferris im Verleih der Edition Salzgeber
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