Wie haben Sie Brunhilde Pomsel kennengelernt?

Frau Pomsel sind wir zum ersten Mal bei der Recherche zu einem anderen Projekt begegnet. Joseph Goebbels war ja für seine vielen Affären bekannt, angeblich hat er u.a. einem seiner Offiziere die Verlobte ausgespannt. Dieser soll Goebbels geohrfeigt haben, woraufhin er in ein Strafkommando versetzt und kurz darauf getötet wurde. Im Zuge dieser Recherche stießen wir auf Brunhilde Pomsel, Goebbels Sekretärin, und es war sofort klar, dass sie das Potenzial für eine eigene Geschichte hat.
Ihr Alter stellte uns natürlich vor die Frage, ob es überhaupt noch möglich sein würde, mit ihr einen Film zu drehen. In Vorgesprächen stellte sich aber schnell heraus, dass sie sehr klar und wach war und dazu noch eine gute Erzählerin. Es hat uns auch beeindruckt, an wie viele Details sie sich noch erinnern konnte. Verblüfft hat uns aber auch ihr Humor. Beim Einrichten des Drehs hat sie ausgelassen gescherzt. Umso konzentrierter und ernsthafter war sie dann im Gespräch. Sie hat nie etwas erzählt, das sie aus zweiter Hand erfahren hat, wie Ereignisse die man aus der Geschichtsschreibung kennt. Sie hat immer nur über Dinge gesprochen, die sie selbst erlebt hat, bei denen sie selbst dabei war.

 

War es schwer, Frau Pomsel zu überzeugen, bei dem Film mitzumachen?

In den Vorgesprächen mussten wir tatsächlich etwas Überzeugungsarbeit leisten. Nach einigen Gesprächen hat sie aber Vertrauen zu uns gefasst. Sie fand es dann wohl selbst interessant, ihre Geschichte noch einmal im Erzählen zu durchleben. Es wurde im Laufe der Gespräche aber auch immer spürbarer, wie sehr es sie auch emotional mitnimmt, sich alles nochmals zu vergegenwärtigen. Reflektiert hat sie ihr Handeln sicher auch schon zuvor. Öffentlich hat sie das unseres Wissens aber nie getan. Sie selbst war eine sehr reflektierte Person. Sie hatte zu allem eine Haltung und versteckte diese auch nicht. Sie stand zu ihrer Position, dass sie keine Schuld trifft. In unseren Gesprächen nahm sie auch noch erstaunlich intensiv am gegenwärtigen Geschehen teil, stellte Bezüge zwischen der Vergangenheit und Gegenwart her.

 

Wie haben Sie die Fragen an sie strukturiert?

Unser Fokus lag auf jenen Jahrzehnten, in denen die damalige Gesellschaft völlig aus den Fugen geraten war, von der Zeit der Weltwirtschaftskrise über das Erstarken der Nationalsozialisten bis zum Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Auch mit Blick auf heute hielten wir das für interessant, da wir hier erschreckende Analogien zur Gegenwart erkennen. Die globale Finanzkrise hat tiefe Spuren hinterlassen, die Menschen fürchten um ihren Wohlstand. Spätestens seitdem immer mehr Flüchtlinge nach Europa kommen, erstarken in vielen Ländern rechte Parteien. Der Ruf nach einem starken Mann wird laut, Zäune wachsen aus dem Boden. Heute ist es nicht nur ein Land, sondern ein ganzer Kontinent, der nach rechts zu driften droht. Es scheint uns erschreckend, wie wenig wir aus jener Geschichte gelernt haben, die noch kein Menschenleben zurückliegt.
Interessant sind aber natürlich auch Kindheit und Jugend von Brunhilde Pomsel: der blinde Gehorsam und das strenge Unterbinden einer eigener Meinung, wie es in der damaligen Erziehung üblich war. Eine derartig strikte Sozialisation konnte natürlich später von den Nazis ausgenutzt werden.
Wir haben Frau Pomsel auch über ihre Gefangenschaft und ihre spätere Karriere befragt, hatten aber den Eindruck, dass dies von unserem Fokus weggeführt, ihn aufgeweicht hätte. Frau Pomsel hat später wieder beim Rundfunk gearbeitet und kam als Chefsekretärin bis in die obersten Etagen der ARD. Das kann man natürlich auch kritisch hinterfragen. Dass viele vorbelastete Personen nach dem Krieg in verantwortungsvolle Positionen kamen und es zahllose bedenklichere Karrieren gab, ist bekannt.

 

Ging es Ihnen darum herauszufinden, wie sehr in einem Menschen mit solch einer Lebensgeschichte auch ein Prozess der Selbstreflexion stattfindet?

Gereizt hat uns vor allem die einmalige Gelegenheit, einen Menschen zu portraitieren, der diese historische Dimension - Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus, Mitarbeit bei Goebbels, russische Gefangenschaft, die Nachkriegszeit bis zur Gegenwart - in sich vereint. Auch wenn sie durch ihre berufliche Position einerseits eine besondere Lebensgeschichte hat, steht Frau Pomsel anderseits doch auch für die Millionen Menschen, die durch ihre Ignoranz und ihren Egoismus das NS-System mitgetragen haben, ja es eigentlich erst möglich gemacht haben. Sie war sehr intelligent. Sie macht einen sympathischen Eindruck, man folgt ihren Erzählungen zunächst gern. Bis man unweigerlich an den Punkt gerät, an dem man sich fragen muss: Wie hätte ich an ihrer Stelle gehandelt?
Uns faszinierte gerade Frau Pomsels Offenheit und Glaubwürdigkeit. Sie behauptete ja keineswegs, ein moralisch vollkommen integrer Mensch gewesen zu sein. Sie sagt: "Natürlich habe ich auf mich geschaut. Natürlich war ich bei der Partei. Aber ich war kein Nazi und ich habe nichts Unrechtes getan." Es ist ihr klar, dass sie anders hätte handeln sollen. Sie hegt auch große Bewunderung für Leute, die im Widerstand waren; und gleichzeitig sagt sie, wie dumm es von ihnen gewesen sei, ihr Leben zu riskieren, sie könnten doch heute noch leben.
Es ging uns aber nie darum, eine persönliche Schuld von Frau Pomsel aufzudecken, sie als Nationalsozialistin zu entlarven, sie zu verurteilen. Das wäre zu einfach gewesen. Es ging uns darum, die Zuschauer damit zu konfrontieren, wie schnell man zur Mitläuferin werden kann. Die Geisteshaltung des Mitläufertums greift auch heute in Europa leider wieder stark um sich: die Gleichgültigkeit anderen gegenüber, das Fehlen von Empathie. Der Film verlangt dem Zuschauer ab, sich die Frage zu stellen, welche moralischen Positionen man selbst vielleicht für ein schnelleres Weiterkommen oder ein höheres Gehalt aufgegeben hätte. Der Film fragt, wie funktionstüchtig unser eigener moralischer Kompass wäre.

 

Spielten bei den Gesprächen mit einer derart betagten Gesprächspartnerin auch Tagesverfassung und Ermüdung eine Rolle?

Wir haben das ganze Interview - insgesamt 30 Stunden Material - an 13 Drehtagen im Studio gedreht. Dazu holten wir sie früh morgens ab, was für sie natürlich anstrengend war. Aber da trat auch eine Art Pflichtbewusstsein bei ihr zutage: Sie hatte uns zugesagt, also zog sie die Sache auch durch, selbst wenn es eine körperliche Belastung für sie war. Wir drehten an den Vormittagen drei bis vier Stunden, dann gab es eine Pause, und am Nachmittag arbeiteten wir nochmals zwei Stunden. Natürlich konnte man ihr anmerken, wenn sie müde wurde. Insgesamt hat sie die Dreharbeiten aber mit einer für ihr Alter unglaublichen Konzentration und Ausdauer gemeistert.
Den Dreh erlebte sie nach unserer Wahrnehmung als positive Erfahrung - sie genoss nicht nur die Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete; sie verstand unserer Dreh auch als Gelegenheit, noch einmal das ganze Leben im eigenen Kopf durchzugehen. Sie hatte sich auch schon zuvor sehr intensiv mit sich selbst auseinander gesetzt. Die eigene Geschichte verfolgte sie nach eigenen Angaben sogar bis in ihre Träume.

 

Wie kamen Sie auf die ästhetischen Idee, den Film in einem reduzierten Setting zu drehen und dem Gesicht von Frau Pomsel mit der Kamera derart nahe zu kommen, es in Close-ups immer wieder zu akzentuieren?

Wir wollten, dass das Setting etwas über-örtliches und -zeitliches bekam. Um Frau Pomsels Geschichte begreifen zu können, muss man bereit sein ihr zuzuhören, sich auf Zwischentöne und Widersprüche einlassen. Daher haben wir versucht einen filmischen Raum zu schaffen, in dem der Zuschauer von Pomsels Geschichte in keinerlei Weise abgelenkt wird. Den Aufnahmen ihres Gesichts und damit ihrer Erzählung kann sich auf der Kinoleinwand niemand entziehen. Sie zwingen den Zuschauer förmlich zur Aufmerksamkeit.

 

Eine von Frau Pomsels Kernaussagen ist: "Auch das Schöne hat Flecken, auch das Schreckliche hat Sonnenstellen. Es ist immer ein bisschen Grau drin in beidem." Pomsels Bemühen, sich in der Grauzone des totalitären Regimes zu arrangieren, erscheint exemplarisch für viele deutsche Leben. Ist das kontrastreiche Schwarzweiss der Filmbilder auch der Versuch, dieser inhaltlichen Ebene des Films ein visuelles Gegengewicht zu verleihen?

Das Schwarzweiß gibt dem Film eine unverwechselbare Ästhetik. Durch diese ganz bewusste Reduktion wird der Inhalt in den Vordergrund gestellt, Aufmerksamkeit verdichtet und konzentriert. Wir wollten alles weglassen, was irgendwie ablenken könnte, damit man sich voll und ganz auf die Erzählung konzentrieren kann. Die Stilistik sollte zudem fließende Übergänge zu den historischen Filmdokumenten schaffen. Pomsels Geschichte ist für uns eine zeitlose, immer gültige.

 

Brunhilde Pomsel sagt an einer Stelle: "Gehorchen, lügen, die Schuld auf jemand anderen schieben. Es wurden Dinge in den Kindern wach, die nicht in ihnen waren." Dieser Satz scheint eine unmittelbare Verbindung zu Michael Hanekes "Das weiße Band" (2009) herzustellen.

Ja, "Das weiße Band" zeigt sehr gut, wie tief die Suche nach Ursachen für das Erstarken des Nationalsozialismus gehen muss. Hitlers Machtübernahme hatte seine Ursachen im ganz Kleinen, in der Familie. In gewisser Weise führt unser Film die Zeitachse von Haneke fort: Frau Pomsel könnte in "Das weiße Band" eins der kleinen Mädchen gewesen sein. An jenem Punkt, an dem Haneke fiktive Ebene endet, beginnen Pomsels Erinnerungen.

 

"Ein deutsches Leben" ist kein reiner Interviewfilm, sondern wird zusätzlich durch den Einsatz von Archivmaterial strukturiert …

Von Beginn an stand fest, dass wir keinen reinen Interview- Film machen, sondern auch mit Filmdokumenten arbeiten wollten. Die Herausforderung dabei bestand darin, die richtige Auswahl zu treffen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass beinahe alles Archivmaterial, das aus dieser Zeit stammt, irgendwie Propagandamaterial war. Die Nachrichten, Aufklärungs- oder Propagandafilme der unterschiedlichen kriegsführenden Nationen vermitteln höchst einseitige, subjektive Informationen. Filme dieser Zeit wurden oft subtil inszeniert, Ereignisse für die Kamera regelrecht orchestriert. Viele dieser historischen Aufnahmen wurden in den vergangenen Jahrzehnten sowohl auf der Bildebene (Umschnitt /Kolorierung) als auch auf der Tonebene (Musik/Kommentar) bearbeitet und damit für die jeweilige Nutzung verfälscht.
Uns war es aber wichtig, unverfälschtes Bildmaterial einzusetzen und zudem genau darauf auszuweisen, woher unser Material kommt. Wir wollen unser Publikum auch auf dieser Ebene des Films für die Wirkung von Propaganda zu sensibilisieren und durch einen künstlerisch freien, unkommentierten Einsatz die objektive Beurteilung dem Zuschauer überlassen. Es war dabei ein Glücksfall, mit dem Steven Spielberg Film and Video Archive und dem US Holocaust Memorial Museum zusammenarbeiten zu können, da in beiden Archiven Materialien in ihrer ursprünglichen Form verfügbar waren. Wir erhielten Zugriff auf einzigartige Filmbeiträge und nie zuvor veröffentlichte Rohmaterialien, die in unbearbeiteter Form eigenständige Erzählstränge im Film bilden.

 

Als drittes strukturierendes Element kommen die Zitate von Joseph Goebbels dazu …

Wir wollten Goebbels filmisch mitwirken lassen, aber in einer distanzierten Form. Dafür eigneten sich die Zitate hervorragend. Die meisten der Aussagen stammen aus seinem Tagebuch, das erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde - eine sehr aufschlussreiche und höchst beklemmende Lektüre, die Pomsels Ausführungen über seine Eitelkeit voll bestätigt. Im Bild sieht man ihn nur ein einziges Mal - in einem völlig ungewohnten Umfeld, wo er weder in Uniform noch in seiner Funktion zu sehen ist: als "Feingeist" im Café Florian in Venedig.

 

Hat Frau Pomsel mehr oder weniger über Goebbels preisgegeben, als Sie erwartet hatten?

Pomsel hat von ihren ganz persönlichen Begegnungen und Erlebnissen berichtet. Genau deswegen waren ihre Erzählungen für uns aber auch problematisch. Wir sahen die Gefahr, dass man sich weniger Frau Pomsel, sondern eher Joseph Goebbels nähern könnte, und das auf eine voyeuristische Art, was wir unbedingt vermeiden wollten. Einen posthumen Propagandaauftritt wollten wir ihm mit diesem Film auf keinen Fall ermöglichen. Es war eine der großen Herausforderungen dieses Projekts, Goebbels mitschwingen zu lassen, ohne ihm zu viel Raum zu geben. Der eigentliche Raum war für Brunhilde Pomsel vorgesehen.

 

Wie hat die Zusammenarbeit von vier Regisseuren funktioniert?

Vier klingt erstmal nach ungewohnt viel Regie-Personal. Es war aber gerade bei diesem Thema ausgesprochen gut, ein vielstimmiges Korrektiv zu haben, um nicht in gängige Denkmuster zu verfallen. Wir haben bei diesem Projekt erlebt, dass man Film auch in einem demokratischen Prozess gestalten kann. Zum Regie- Team kam übrigens auch noch unser Schnittmeister Christian Kermer, der den Look des Films wesentlich mitgeprägt hat. Er hat uns oft motiviert, schon abgeschlossen betrachtete Sequenzen nochmals zu überdenken und querzubürsten.

 

Was hat die Arbeit an dem Film in Ihnen ganz persönlich ausgelöst?

Das Schlimmste war die Sichtung des Archivmaterials. Das zieht sich bis in die Träume hinein, einige Bilder wird man nicht mehr los. Für uns, die wir alle nach dem Krieg geboren wurden, drängt sich immer wieder die Frage auf, wie man wohl selbst in einer vergleichbaren Situation gehandelt hätte. Nach einer derart intensiven Auseinandersetzung, die dieser Film für uns bedeutete, fällt uns die Antwort nicht mehr so leicht.

 

Glossar

 

Wulf Bley: Fliegerheld des Ersten Weltkriegs, Nationalsozialist der ersten Stunde, Autor von Kitsch-Romanen und Propaganda.
Pomsel tippte seine Kriegserinnerungen, die später während der NS Zeit zum Bestseller wurden.

 

Joseph Goebbels: Reichsminister für Propaganda und Volksaufklärung, Gauleiter von Berlin, einer der engsten Vertrauten Adolf Hitlers,
ab 1942 Pomsels Chef.

 

Dr. Hugo Goldberg: jüdischer Rechtsanwalt und Versicherungsmakler, Arbeitgeber von Pomsel bis 1933.

 

Hans Fritsche: bekleidete verschiedenste hochrangige Posten im Propagandaministerium, war unter anderem Generalbevollmächtigter für die politische Organisation des Großdeutschen Rundfunks und stellvertretender Gauleiter von Berlin. Fritsche wurde am 30. September 1946 in den Nürnberger Prozessen überraschend freigesprochen.

 

Kurt Frowein: Regierungsrat im Propagandaministerium. Im Juli 1940 holte ihn Goebbels als Presse-Referenten nach Berlin. Im Juni 1943 avanciert er zum Reichsfilmdramaturgen. Pflegte sich am Telefon mit dem Satz "Hier spricht der deutsche Mensch" zu melden.

 

Weiße Rose: studentische Widerstandsgruppe gegen die NS-Diktatur. Sie entstand im Juni 1942 um die Geschwister Sophie und Hans Scholl und Alexander Schmorell. Nach der Enttarnung bei einer Flugblatt-Aktion im Februar 1943 wurde die Gruppe verhaftet und nach einem Schauprozess hingerichtet.