Ihr Vater Klaus Gysi hatte viele Zu­schreibungen. Heiner Müller nannte ihn „einen der Wendigsten“, Stephan Hermlin soll ihn als einen „Opportunisten der schlimmsten Sorte“ bezeichnet haben. Im Westen schrieb Marcel Reich-Ranicki, er sei stets „ein Intellektueller geblieben“. Sie nennen Ihren Film „Der Funktionär“. Lässt sich Ihr Vater unter diesem Begriff überhaupt fassen?

Der Film befasst sich mit dem Funktionär und nicht mit dem Menschen, der Tiere liebte oder Krimis las. In Leipzig, bei der Uraufführung, sagte mir jemand: „Mein Vater kannte Ihren Vater, er war nicht nur ein Funktionär!“ Ich höre das gerade von Leuten, die die DDR verteidigen wollen. Sie haben die Abwertung des Begriffs aber übernommen. Für mich hat das Wort „Funktionär“ nichts Diskreditierendes. Es ist die Bezeichnung für einen Menschen, der sein Leben in den Dienst seiner Partei gestellt hat. Die Frage ist für mich eher, was für ein Funktionär er war.

 

Und was für einer war er?

Es gab eine auffällige Differenz zwischen seiner politischen Rolle und seiner Erscheinung. Er hatte als Leiter des Aufbau Verlags, nach der Verurteilung seines Vorgängers Walter Janka, und als Minister nach dem 11. Plenum die Aufgabe, den Verlag bzw. das Ministerium wieder auf Linie zu bringen. Er vertrat die jeweilige Parteidoktrin und gehörte in den Augen der meisten Leute dennoch nicht zur Riege der Willfährigen. Dass man ihm diese Funktionen gab, sollte den Künstlern zugleich signalisieren: Wir schicken Euch hier einen, mit dem ihr reden könnt. Er galt auf eine diffuse Art als „anders“. Er sprach gewandt, war von einer gewissen Respektlosigkeit in jede Richtung. Er hatte Witz. Gerade in seinem Witz war immer eine innere Distanz spürbar. Als Staatssekretär liefen Gespräche oft so: Er erklärte den Bischöfen, er müsse hier die Haltung des Politbüros vertreten, die er im Übrigen für falsch halte, aber auch sie hätten ja Probleme in ihrem „Verein“. Er konnte die Distanz einsetzen, um sein Gegenüber zu erweichen. Vor allem aber war die Distanz ein Schutz.
Auch wenn mir das politisch von heute aus betrachtet als falsch erscheint, muss ich doch bedenken: Für einen Menschen mit jüdischen Wurzeln war es eine Leistung, dieses Jahrhundert zu überleben. Da halfen Anpassungsfähigkeit und Skepsis. Ich habe leicht reden - als jemand der verschont geblieben ist und nicht diesen Konflikten ausgesetzt war.
Zum anderen unterschied ihn seine bürgerliche Herkunft von den Arbeitersöhnen der Parteiführung. Man strich das immer heraus, als sei das eine Auszeichnung. Im Westen schlug man ihn so zur bürgerlichen Klasse, machte ihn sich verwandt, im Osten war es ein kleinbürgerlicher Reflex der Bewunderung. Dabei war das Bürgerliche vielleicht das, vor dem mein Vater am meisten floh. Er sagte, der Eintritt in die kommunistische Partei sei „ein Sprung auf den schon fahrenden Zug der Weltrevolution“ gewesen. Er wollte fort. Weil es sich so gehörte, studierte er, und er studierte Betriebswirtschaft, weil es das kürzeste Studium war. Dann gab ihm die Partei Aufträge und rettete ihn so vor einem bürgerlichen Leben. Ich kann mir meinen Vater in keinem bürgerlichen Beruf vorstellen.

 

In Ihrem Film zeichnen sie seine Anpassungsleistung schonungslos. Härter, als es jetzt aus Ihren Worten klingt.

Der Film ist zentral aus meiner Perspektive der späten 80er Jahre erzählt. Das war die Zeit, in der die ganze Partei nur noch taktierte. Die Worte meines Vaters wichen zwar von der Sprache des Politbüros ab, aber sein Taktieren entsprach im Grunde vollkommen dem der Führung. Er hatte die Fähigkeit, Gespräche zu führen, ohne Ergebnis und ohne Konsequenz. Ich weigere mich, das Taktieren als eine Qualität anzusehen. Das Taktieren war eine Folge der fehlenden politischen Initiative, am Ende auch der fehlenden politischen Idee. Taktik ist immer Teil des politischen Handelns, wenn sie aber nicht Instrument einer Strategie ist, hat sie keinen anderen Zweck als den Status quo aufrecht zu erhalten. Das war die Lage am Ende der DDR, oder schon lange vorher, und da hatte auch mein Vater seine Rolle. Dieses Leere hat er am Ende auch gespürt, auch er war aufgezehrt. Das ist natürlich eine Tragödie.

 

Am Anfang des Films zeigen Sie Ihren Vater im Gespräch mit Günter Gaus. Da sagen Sie: „Seine Worte klangen so, als hätte er nicht dazu gehört.“ Werfen Sie ihm ein fehlendes Schuldeingeständnis vor?

Im Gegenteil. Es war ausgesprochen schmerzlich, ihn so zu sehen. Ich hatte mir eine klare Haltung gewünscht. So etwas wie: Ja, wir haben verloren, aber dass wir verloren haben, heißt nicht, dass wir nicht recht hatten. Das war im Jahr 1990. Kommunisten, und daran hat sich bis heute nichts geändert, sind gesellschaftsfähig als tragische Helden, die mit ihrem Scheitern beweisen, dass eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus unmöglich ist. Mein Vater hat in diesem historischen Augenblick genau diese Rolle. In seinen Worten wird der Sozialismus wieder zur Utopie, also zu einer Sache, die nicht im Reich des Möglichen liegt.

 

Wie haben Sie Ihren Vater als Kind wahrgenommen?

Als freundlichen Mann, mir gegenüber. Aber vor allem war er nicht da.

 

Er vertrat ja auch den Staat. Wie hat das Ihr Verhältnis zur DDR geprägt?

Das hat mein Verhältnis zur DDR zu einer quasi familiären Angelegenheit gemacht. Die Sehnsucht nach dem Vater und das Hoffen auf den Kommunismus fielen in meiner kindlichen Wahrnehmung zusammen. Als Pubertierender wurde altersentsprechend die tragische Seite stärker. Ich sage im Film ja: „Ich hatte eine direkte Verbindung zu seiner Geschichte, als wäre sie auch meine.“ Das hat mich älter gemacht, als ich war. Das hat mich auch beschwert. Die ganzen Opfer, die ganzen Toten der kommunistischen Bewegung. Meine eigene Erfahrung war natürlich eine ganz andere. Das waren die Konflikte in der Schule, bei der Armee oder an der Universität. Ich habe eigentlich erst lange nach der DDR verstanden, dass ich ein Anrecht auf ein eigenes Erleben, auf eigene Erfahrungen habe.

 

Der Film verbindet sehr private Erinnerungen mit Aufnahmen von öffentlichen Auftritten Ihres Vaters. Es bleibt aber eine große Distanz. Es gibt kaum Verbindendes oder auch Alltägliches. Warum?

Die Entscheidung, was im Film landet und was ausgeschlossen ist, war im Grunde ganz einfach: Ausgeschlossen war jede Art von Privatheit, die privat bleibt, weil mir zu ihr nichts einfällt, weil sich an sie kein Gedanke knüpft, der über das Private hinausgeht. Ich hätte ganz anderes und viel mehr erzählen können. Das wäre dann aber ein Roman. Ich habe zum Beispiel das Verhältnis meines Vaters zu seiner Mutter ausgelassen, obwohl sich in dieser Beziehung vermutlich sein emotionales Verhältnis zur Partei gebildet hat - indem die Partei an die Stelle der Mutter trat. Aber das hätte dem Film seine politische Dimension genommen. Es ist eben kein Porträt, schon gar keine Biografie. Ich kann nicht von meinem Vater sprechen, ohne von mir zu reden, von meiner eigenen historischen Erfahrung, deren Teil er ist. Ich habe auch meine Geschichte, wie sie im Film aufscheint, wie ein Material betrachtet. Ein Erinnerungsmaterial. Das war nötig, um überhaupt damit umgehen zu können. Diese Distanzierung war auch die einzige Möglichkeit um das Ganze aushalten zu können. Aber es schien mir auch ästhetisch notwendig. Weil nur so die Lücken und Brüche entstehen, an denen sich Fragen bilden. Eine Narration ohne Leerstellen ist eine Fiktion, insofern ist der Film realistisch.

 

 

Filmstill

 

Warum haben Sie diesen Film erst jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, gemacht?

Weil man den historischen Abstand braucht. Es hat auch etwas mit dem eigenen Lebensalter zu tun. Da werden irgendwann die Fragen drängender. Man spricht ja immer aus der eigenen Gegenwart heraus, auch wenn man von der Vergangenheit spricht. Erst als ich angefangen habe, so lange auf die Erinnerungstücke, die Bilder zu schauen, dass sie sich langsam meinem Auge entfernten, wurden sie durchlässig. Es geht nicht um die Geschichte meines Vaters oder unserer Beziehung als Beispiel oder Symptom, sondern um die Erfahrung, die im Biografischen gespeichert ist, ob wir sie nun verstehen oder nicht.

 

Der Film lässt sich nur schwer einordnen. Welche Vorstellungen von dem fertigen Film hatten Sie am Anfang und wie haben sich diese im Laufe der Arbeit verändert?

Ich hatte am Anfang keine Vorstellung. Es wäre mir obszön vorgekommen, eine zu haben. Ich habe mich durch den Film gezwungen, meine Erinnerungen und meinen Vater anzusehen. Ich brauchte diesen Zwang, um mir diesen Film abzuringen. Drehen, Schneiden und Recherchieren fielen zusammen. Alles, was Chris Wright und ich am Anfang geschnitten haben, ist nicht im Film geblieben. Chris hat mich durch die dunklen Zonen geführt. Wir haben Themen oder Stationen oder Gedanken zu Inseln montiert. Diese Inseln wurden hin und her geschoben, ergänzt, reduziert usw. Das war nicht nur ein formaler Prozess, es war auch ein Denkprozess. Manchmal gingen wir auch zu weit dabei. Dann haben wir herausgefunden, dass wir jetzt in einem Terrain landen, das den Film oder richtiger einen Film auch überstrapaziert.

 

Haben sich Ihr Bild von Ihrem Vaters und das der DDR im Laufe der Arbeit verändert?

Ich habe die Akten und das meiste Archivmaterial zum ersten Mal bei der Arbeit am Film gesehen. Das waren Entdeckungen: Mein Vater, der noch ganz klar sprach, aber auch eine DDR, die ich selbst nicht erlebt habe. Diese Gesprächsrunde aus dem Jahre 1967 war wirklich ein zentrales Erlebnis. Da sieht man, wie die Leute damals sprachen. In ihrer Mitte ein Betriebsleiter. Proletarische Aufsteiger waren das Beste, das die DDR hervorgebracht hat. Oder auch die ganzen Berichte, die mein Vater als Staatssekretär ans Politbüro schrieb, in denen deutlich wird, wie stark die Partei in der Defensive war und nur noch versucht hat, es allen Recht zu machen. Man merkt, dass der Weg in den Westen gar kein Bruch war, sondern sich länger vorbereitete. Ich habe auch die Fotos, die ich selbst gemacht hatte, durch die Arbeit am Film nach 30 Jahren wieder angeschaut.

 

Immer Bilder ohne Menschen.

Ja, ich habe die DDR schon wie ein Museum fotografiert. Als hätte ich schon damals von ihrem Verschwinden gewusst, oder als wäre sie schon verschwunden. Das war sie ja in gewisser Weise auch. Nicht nur mein Vater war abwesend. Ich hatte auch das Entscheidende nicht erlebt: den Krieg, den Neuanfang, die großen Versuche in den 60ern, die auch meine Eltern nicht mehr erinnern konnten. Dass die Einschusslöcher an den Fassaden noch sichtbar waren, war tröstlich, sie haben einen mit der Geschichte verbunden.

 

Man hat den Eindruck, dass Sie noch viel mehr zu erzählen hätten, als im Film ...

Ja, es gibt Gedanken, die nicht mehr im Film gelandet sind. Zum Beispiel die Frage, ob mein Vater jemals in der DDR angekommen ist. Er war ja schon 37, als der Staat gegründet wurde. Da ist ja ein Mensch schon fertig. Oder die unheimliche Vorstellung, dass das Ende der DDR jetzt 30 Jahre her ist und mir doch nah und klar in Erinnerung ist. Und dass ich versuche, mir vorzustellen, dass dieses eine Bild meiner Eltern im Garten nur gut 20 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz entstand. Aber damit muss man leben, dass immer ein Rest bleibt. Es gibt Filme, die sind wie Bestattungen. Ich glaube, es ist gut, dass ein Film seinen Stoff nicht frisst und auch nicht den Eindruck erweckt, als hätte er sein Thema „erledigt“. Es bleibt noch Vielen vieles zu sagen.