Florence Foster Jenkins' Lebensgeschichte ist von Legenden umrankt, die einer Überprüfung kaum standhalten, obwohl sie äußerst verführerisch sind. Doch selbst wenn man sich auf gesicherte Fakten beschränkt, ergibt sich ein Lebensbild, das nach den Worten des Historikers und Jenkins-Experten Gregor Benko „fantastischer anmutet als jede Fiktion”.
Die Jenkins wusste zeitlebens ein großes Geheimnis um ihr wahres Alter zu machen. Laut Familienarchiv kommt sie am 19. Juli 1868 zur Welt, also kurz nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs. Sie wächst in der Kleinstadt Wilkes-Barre im US-Bundesstaat Pennsylvania auf. Ihr Vater, Charles Dorrance Foster, ist ein erfolgreicher Unternehmer und Geschäftsmann, ihre Mutter Mary Jane betätigt sich als Landschaftsmalerin. Die Fosters gehören zu den reichsten Familien der Gegend. Florence genießt die Erziehung einer „höheren Tochter”, erhält den obligatorischen Klavierunterricht.
Ein rebellischer Zug ist ihr wohl von Anfang an eigen: Auf einem Kinderfoto posiert sie bereits wie eine selbstbewusste kleine Lady. Und angeblich äußert sie schon als Teenager den dringenden Wunsch, Opernsängerin zu werden. Doch der Vater protestiert, denn in den Augen der damaligen Gesellschaft gilt eine Bühnenkarriere für eine Dame aus gutem Hause als nicht standesgemäß. Im Konflikt zwischen Vater und Tochter scheinen nicht nur unterschiedliche Generationen und Ansichten, sondern auch zwei besonders hartnäckige Temperamente aufeinander zu prallen.
Mit knapp 16 Jahren verlässt Florence Wilkes-Barre und geht nach Philadelphia, wo sie den Arzt Frank Thornton Jenkins heiratet. Sie brennt mit ihm durch, vermutlich um dem Einfluss ihres Vaters zu entgehen. Doch dann geschieht das Ungeheuerliche: Dr. Jenkins steckt seine junge Ehefrau aller Wahrscheinlichkeit nach mit Syphilis an. Eine Behandlung ist damals kompliziert, die Nebenwirkungen zum Teil verheerend.
Florence verlässt Dr. Jenkins, eine Scheidung kommt aber nicht in Frage. Sie behält seinen Namen, ohne jedoch auf ihren eigenen zu verzichten. Zu einer Zeit, als es noch nicht einmal ein Frauenwahlrecht gibt, kommt dies einem politischen Statement gleich.
Lange Zeit muss sich Florence Foster Jenkins weitgehend allein durchschlagen. Dann beginnt sie, Kontakte nach New York zu knüpfen. Spätestens 1906 siedelt sie endgültig nach Manhattan um. 1909 - sie ist jetzt 41 Jahre alt - stirbt ihr Vater und hinterlässt ihr, dem mutmaßlichen Zerwürfnis zum Trotz, ein großzügiges Auskommen.
New York ist schon damals das Sinnbild der Moderne. 1904 wird die New Yorker U-Bahn eröffnet, die ersten Wolkenkratzer schießen in die Höhe, das Radio wird Massenmedium. In der Metropole vollzieht die Jenkins ihre Verwandlung zur exzentrischen Salon-Diva. Finanziell unabhängig und von Geltungsdrang getrieben übernimmt sie den Vorsitz verschiedener Frauenclubs, von denen es in New York damals Hunderte gibt. Sie etabliert sich als wahre Self-Made-Woman und gründet 1917 sogar ihren eigenen Club, den Verdi-Club. Sie nimmt endlich Gesangsstunden und lässt sich trotz der mangelhaften Qualität ihrer Stimme nicht davon abhalten, vor Publikum aufzutreten, wenn auch vorerst nur im Rahmen von Club-Veranstaltungen.
Zu ihrem Markenzeichen werden dabei so genannte Tableaux vivants: lebende Bilder, in denen sie in den Rollen von Heldinnen und Fantasiegestalten posiert. Neben üppiger Ausstattung und Kostümierung gehören zu ihren Tableaux auch Musik und Gesang. Wie fantastisch und skurril diese Shows gewesen sein müssen, lassen die Programmhefte erahnen, die Madame Jenkins eigens dazu herausgab: So räkelt sie sich in einem Tableau als weiße Aida inmitten von halbnackten, dunkel bemalten Statisten. In einem anderen Tableau mit dem Titel „Die Sterne des Himmels” figuriert sie als Stern von Bethlehem. Oder sie präsentiert ein verspieltes und nur scheinbar unschuldiges Naturbild in dem Tableau „Der Schmetterling und die Blumen”.
Im wahren Leben tritt die Jenkins nicht weniger opernhaft und theatralisch auf: Ihre extravaganten Outfits haben laut Gregor Benko „keinerlei Bezug zu irgendeiner Garderobe, die irgendjemand sonst irgendwo jemals trug”.
1909 lernt Florence Foster Jenkins in New York den britischen Schauspieler St. Clair Bayfield kennen, der ihr Manager und Lebenspartner wird. Bayfield macht sich als ihr Adjutant unentbehrlich, sie wiederum finanziert seinen Unterhalt. Obwohl sie ihn nie heiratet, nennt sie ihn in der Öffentlichkeit „Ehemann”. Nach einigen Jahren beginnt er eine Affäre mit Kathleen Weatherley, die er nach Jenkins' Tod auch heiraten wird. Umgekehrt sind mehrere Affären belegt, die die Jenkins ihrerseits mit vermutlich wesentlich jüngeren Männern hatte.
Derweil werden ihre kuriosen Auftritte zum Geheimtipp in der New Yorker High Society. Jahr für Jahr erweitert sich der Rahmen, bald mietet sie die Ballrooms der berühmten New Yorker Luxushotels. Ihre Recitals lässt sie von dem Pianisten Cosmé McMoon begleiten, manchmal holt sie auch weitere Instrumentalisten dazu. Ihre missglückten Gesangsinterpretationen avancieren zu einem regelrechten Kult: Die Leute können sich vor Lachen kaum halten, versuchen dieses aber mit Applaus und Pfiffen zu übertönen. Die Jenkins kann sich so stets in einem Sturm der Begeisterung wähnen. Sie selbst ist davon überzeugt, eine begnadete Sängerin zu sein. Ob sie unter Wahrnehmungsstörungen litt, die durch die Syphilis oder deren Behandlung verursacht wurden, bleibt Spekulation. Ihr kreativer Drang und ihre Eitelkeit sind aber unbestritten.
1941 entscheidet sich Madame Jenkins, ihre Stimme auf Schellack zu bannen - und so ihre einzigartige „Kunst” für die Nachwelt zu erhalten. Sie geht in ein Tonstudio und spielt eine Reihe halsbrecherisch schwieriger Koloratur-Arien ein, darunter die berühmte Arie der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte”, nach eigener Auskunft in jeweils einem einzigen Take. Sie ist zu diesem Zeitpunkt über 70, glaubt sich aber im Zenit ihres Schaffens.
Doch eine Bastion gilt es noch zu erobern: die New Yorker Carnegie Hall. Seit ihrer Eröffnung im Jahr 1891 steht das Konzerthaus für höchste musikalische Weihen. Nur Weltstars treten dort auf - und die Jenkins ist davon überzeugt, einer zu sein. Paradoxerweise gerät ihr Debüt in der Carnegie Hall zugleich zum Triumph und zur Katastrophe. Der Saal ist bis zum Bersten gefüllt, Tausende werden gar nach Hause geschickt, weil es keine Tickets mehr gibt. Das Publikum tobt. Doch am nächsten Tag erscheinen vernichtende Kritiken in den Feuilletons der Zeitungen. Die Jenkins nimmt sie zur Kenntnis. Kurz darauf erleidet sie einen Herzinfarkt. Fünf Wochen später ist sie tot.
Ihr Leichnam wird in der luxuriösen Familiengruft der Fosters in Wilkes-Barre beigesetzt. Das Vermögen der kinderlosen Diva wird auf zwei Dutzend entfernte Verwandte verteilt. Bayfield geht fast leer aus. Doch er hütet einen wertvollen Schatz: sein privates Florence- Foster-Jenkins-Archiv mit Artikeln, Interviews, Fotos, Tagebüchern und Programmheften. Heute befindet sich das Archiv in der New York Public Library for the Performing Arts.
”Das Kennzeichen des Camp ist der Geist der Extravaganz. Camp ist eine Frau, die in einem Kleid aus drei Millionen Federn herumläuft.“
Susan Sontag, ”Anmerkungen zu Camp“